Loading...

Übernahme des Bösen in die Philosophie

Michael Seibel • das Böse, Teil 11   (Last Update: 17.11.2017)

Augustinus entwickelt den Begriff Erbsünde an einem konkreten exegetischen Problem, der Auslegung von Röm. 9,10-13


„ [10] So war es aber nicht nur bei ihr [Sara], sondern auch bei Rebecca: Sie hatte von einem einzigen Mann empfangen, von unserem Vater Isaak, [11] und ihre Kinder waren noch nicht geboren und hatten weder Gutes noch Böses getan; damit aber Gottes freie Wahl und Vorherbestimmung gültig bleibe, [12] nicht abhängig von Werken, sondern von ihm, der beruft, wurde ihr gesagt: Der Ältere muß dem Jüngern dienen; [13] denn es steht in der Schrift: Jakob habe ich geliebt, Esau aber gehaßt.“


Die entscheidende Frage in Bezug auf Röm 9,10-13 war für Augustinus, wie man erklären könne, dass Gott von zwei Ungeborenen den einen liebe, den anderen aber hasse, ohne Gott vorwerfen zu müssen, er sei ungerecht, was in Augustins Augen absurd wäre. In „Expositio quarundam propositionum ex epistola ad Romanos“ löst Augustinus das Problem durch die Überlegung, dass Gott immer schon gewußt habe, dass Jakob glauben werde, Esau jedoch nicht. Der Glaube sei Verdienst des Menschen. Das habe der Allwissende voraus gewußt. Und so sei es der Mensch selbst, der über sein Heil oder Unheil entscheide und nicht ein ungerechter Gott.

In der späteren Schrift „Ad Simplicianum“ interpretiert Augustinus Röm 9,10-13 erneut. Diesmal verwirft er jedoch den Gedanken, dass der Glaube Verdienst des Menschen sei. Er verdanke sich ebenfalls allein der Gnade Gottes. Aber warum wird dann Jakob erwählt und Esau nicht? Jakobs Erwählung ist demnach ein reiner Gnadenakt. Augustinus entwickelt den Gedanken der Erbsünde, um in Esaus Verdammnis keine Ungerechtigkeit Gottes sehen zu müssen. Es muß einen gerechten Grund für die Verwerfung des ungeborenen Esau geben, eine bereits angeborene Sünde. In dieser Hinsicht kann es allerdings keinen Unterschied zwischen Esau und Jakob geben. Die Erbsünde muß alle Menschen betreffen. Die Menschheit insgesamt ist eine einzige Sündenmasse (massa peccati). Die Begründung liefert ihm Röm 5,12

„Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.“

Er übersetzt dabei „in quo omnes peccaverunt“ fälschlich mit „in dem (in Adam) alle sündigten“ statt mit „weil alle sündigten“, wie es nach der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der Septuaginta, heißen müßte.


Gott ist in seiner Gnadenwahl frei. Sie entzieht sich jeder menschlichen Einsicht. Die Erwählung Jakobs zeigt Gottes Barmherzigkeit, die Verdammnis des Esau Gottes Gerechtigkeit, denn die ewige Verdammnis ist aufgrund der Erbsünde gerecht.

„Es bilden also alle Menschen – zumal da nach dem Wort des Apostels ‚in Adam alle sterben’ (1Kor 15,22), von dem sich für das gesamte Menschengeschlecht der Ursprung der Beleidigung Gottes herleitet – eine einzige Sündenmasse, die der höchsten, göttlichen Gerechtigkeit Strafe schuldet. Wenn sie eingetrieben oder nachgelassen wird, so bedeutet beides kein Unrecht.“1


Gott ist bei der Ungleichbehandlung ebenso wenig ungerecht wie ein Gläubiger, der einem seiner Schuldner die Schuld erläßt, während er sie von einem anderen Schuldner gerechterweise einfordert.


Hatte Augustinus die Frage nach dem Ursprung des Bösen philosophisch zunächst aus einem manichäischen Dualismus heraus beantwortet, in dem der gute Gott nicht Ursprung des Bösen ist, so verbindet er, nachdem er sich vom Manichäismus gelöst hat, zum Verständnis des Ursprungs des Bösen zwei Gedanken miteinander, einen stark subjektivierten Wahrheitsbegriff...

»Noli foras ire, in te ipsum redi; in interiore homine habitat veritas«

(Geh nicht nach außen, kehre in dich selbst zurück, im Innern des Menschen wohnt die Wahrheit)2

… und die an Plotin anknüpfende Vorstellung von Gott als Gutem und Einem, von dem alles durch freien Schöpfungsakt ausgeht. Das Böse ist für ihn keine Substanz, die der guten göttlichen Substanz entgegenstünde, sondern wird als substanzloser Mangel an Güte gedacht.

Der individuelle Mensch, Seele und freier Wille, erkennt Gottes Güte und ist zugleich allein verantwortlich für das menschliche Handeln und mithin für das Böse. Ursache des Bösen ist die menschliche Freiheit. Das Böse ist die Privation des Guten, hat keinerlei ontologische Bedeutung, aber gerade darum den Charakter dem Individuum zuzurechnender Sünde.






Allmacht und Theodizee


Der monotheistische Gott erhebt Allmachtsanspruch. Damit ist der einzige Gott des Christentums in das Theodizee-Problem verstrickt, für das selbst der ganze Scharfblick eines Augustinus keine Lösung findet und das sich nicht mehr auf eine vielgestaltige Götterschar verteilen läßt.


»Entweder will Gott die Übel beseitigen, kann es aber nicht: Dann ist Gott schwach, was auf ihn nicht zutrifft. Oder er kann es, will es aber nicht: Dann ist Gott missgünstig, was ihm fremd ist. Oder er will es nicht und kann es nicht: Dann ist er schwach und missgünstig zugleich, folglich nicht Gott. Oder aber er will es und kann es, was allein sich für Gott ziemt: Woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?«3


Leibniz möchte einen rationalen Nachweis der »Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft« liefern, den nur die autonome Vernunft selbst leisten kann. Dazu möchte er a priori nachweisen, dass Gott, wenn er sowohl alles weiß, das beste will und allmächtig ist, durch seine Liebe und Güte genötigt ist, die »beste aller möglichen Welten« auszuwählen und zu realisieren, ohne dass er dadurch in seiner Freiheit eingeschränkt wird.

Diese beste Welt ist aber weder die schmerzfreieste aller Welten noch eine katastrophenfreie Weltgeschichte. Das Maß ist also nicht der einzelne leidende Mensch. Es handelt sich trotzdem um eine prästabilierte Maximalharmonie, weil es zugleich die einfachste Lösung für eine Welt mit maximaler Vielfalt und den relativ besten individuellen Lebensbedingungen ist. Sozusagen ein Additionsoptimum, die auch die gesamte Kausalkette dorthin einschließt, die ebenfalls die beste aller möglichen ist,

»obgleich das, was in jedem einzelnen Zeitabschnitt im ganzen Universum besteht, nicht das Beste sei«.4


Den eigenverantwortlichen freien Handlungen der Menschen hat Gott ebenso Raum gegeben. Sie sind ebenso gefragt, um die bestmögliche Ordnung herzustellen.


Da Gott die Welt und nicht einen zweiten Gott geschaffen hat, kann seine Schöpfung außerdem nicht so perfekt sein wie er selbst. Das erklärt das ›malum metaphysicum‹ aus der Unvollkommenheit, auf die auch der Tod und die begrenzten Kräfte der Menschen zurückgehen.



Es folgt daraus,

»dass Gott vorhergehend alles Gute an sich will, dass er nachfolgend das Beste als Endzweck will, dass er zuweilen das Gleichgültige und das physische Übel als Mittel will« – nämlich »um größere Übel zu verhindern oder größere Güter zu erlangen« –, »dass er aber das moralische Übel nur als ein notwendiges, d.h. als hypothetische Notwendigkeit zulassen will, die es mit dem Besten verknüpft«.5

Schelling kommt im 19. Jahrhundert auf die Lösung. Wenn alles was ist, einen Grund hat, dann muss auch Gott einen Grund haben. Aber wäre er damit nicht Geschöpf statt Schöpfer? Gott muss sein eigener Grund sein. Und dieser Grund darf im Gründungsakt nicht gänzlich ins Gegründete übergehen. Der dunkle Grund, der Gott in sich selbst ist, muss erhalten bleiben. Diesen dunklen Grund nennt Schelling das Böse.

»Da nichts vor oder außer Gott ist, so muss er den Grund seiner Existenz in sich selbst haben. [. . . ] Dieser Grund seiner Existenz, den Gott in sich hat, ist nicht Gott absolut betrachtet, d.h. sofern er existiert; denn er ist ja nur der Grund seiner Existenz, Er ist die Natur – in Gott; ein von ihm zwar unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen.«


Durch die Schöpfung, der Selbstentäußerung oder Selbstoffenbarung Gottes, waltet dieser dunkle Grund als ein ewiges Prinzip neben dem Prinzip des Lichtes. Doch wird nicht überall das Böse unmittelbar wirksam.

»Nach der ewigen Tat der Selbstoffenbarung ist nämlich in der Welt, wie wir sie jetzt erblicken, alles Regel, Ordnung und Form; aber immer liegt noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden.«


Erst der Mensch ist in der Lage, das böse Prinzip gegen das gute zu kehren; diese Möglichkeit macht seine Freiheit aus:

»Der reale und lebendige Begriff aber ist, dass sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sei.«


Im 20. Jahrhundert bietet Karl Barths eine sehr eigenwillige Lösung des Theodizeeproblems und eine Begründung der Möglichkeit des Bösen: „Was eigentlich und in Wahrheit ist, kann ja nur Gott und seine Schöpfung sein. Das Nichts ist aber weder Gott noch seine Schöpfung. Darum kann es auch nicht sein, wie Gott und seine Geschöpfe sind.“6

Das Böse negiert das Sein in einer Möglichkeitsniesche, in der Gott selber nichts gewollt hat.


Anmerkungen:

1 Augustinus, Simpl. 1,2,16; Aurelius Augustinus. Der Lehrer der Gnade. Gesamtausgabe seiner antipelagianischen Schriften. Prolegomena 3, Würzburg 1991


2 Augustinus, De vera religione 39, 72


3 Glei, R. F., 1988, Et invidus et inbecillus. Das angebliche Epikurfragment bei Laktanz, De ira Dei 13, 20-21. In: Vigiliae Christianae 42.


4 Leibniz, G. W., Essais de Théodicée. In: Die philosophischen Schriften, hg. v. C. I. Gerhardt, Berlin 1885 (ND Hildesheim 1978) S. 237 (II, § 202)

5 ebd., S. 115-117 (I, §§ 21-25)

6 Karl Barth, KD, 1950, III/3, §50.408



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



zurück ...





Ihr Kommentar


Falls Sie Stellung nehmen, etwas ergänzen oder korrigieren möchten, können sie das hier gerne tun. Wir freuen uns über Ihre Nachricht.